Warum küsst die Muse überhaupt?

Warum küsst die Muse überhaupt – sie könnte schließlich auch einen sanften Hauch senden oder zart übers Haar streicheln, die Hand führen oder in die richtige Richtung schubsen. Und wenn es schon ein Kuss sein soll, ergibt sich doch die Frage: Wie ist er denn, dieser Musenkuss?

Diese Frage ließ mich genauso wenig ruhen wie die Autorin dieser Kolumne, auch wenn sich im Innern sofort eine Antwort regte. Hier spüre ich ihr nach:

Der gleiche sanfte Kuss, den ich einschlafend kaum noch wahrnehme und den ich erwachend mehr träume als spüre, dient dem Wecken. Der Guten-Morgen-Kuss holt mich in die Welt des Tages mit seinen allfälligen Gedanken, Bewegungen und Handlungen. Der Gute-Nacht-Kuss öffnet die Tür zum Traum, zu seiner mitunter komplexen Symbolik, deren Bilder gemalt sind aus vergessenen und verdrängten Szenen, die hier tief innen aufbewahrt, ge-innert sind und er-innert, geweckt werden wollen. Der Kuss erweckt.

Wir alle haben häufig erfahren wie uns ein Gedicht, ein Bild, ein Theaterstück, eine Musik anrührt. Wir alle haben Wissen um die Macht der Musen, den Töchtern der Göttin Mnemosyne (Erinnerung). Mit ihrer musike techne (μουσικη τεχνη), ihrer Kunst verzaubern sie uns, rühren uns an, wühlen uns auf, stoßen tief vor in das Reich der (verschütteten, verdrängten) Erinnerungen.

Damit erfüllt die Muse den mütterlichen Auftrag: Erinnere dich!

Wie machtvoll Erinnerungen sein können, indem sie uns aus starren Mustern, erstarrten Lebensbezügen wieder zu „Machern“ ermächtigen, stellt den Bezug zum Vater der Musen her. Schließlich ist es der mächtige Zeus, der – jenseits diesseitiger Moral – als Neffe was mit Tantchen anfängt (oder ist es umgekehrt?). Ja, Mnemosyne gehörte zu den Titanen, dem Kanon der zweiten Göttergeneration, die dem Olympier, Chef der nachfolgenden Göttergeneration, Gelegenheit gibt, zu zeugen, Zeugnis abzulegen.
Mitunter reicht es nicht aus, etwas zu er-kennen, mitunter muss man sich zu etwas be-kennen.

Und so ist der Kuss der Muse tatsächlich sanft, streichelnd, führend, schubsend…, um das titanenhafte Werk der Erinnerns zu lichterfüllten olympischen Höhen zu führen.

Hanswerner Herber

Für den letzten Satz zeichnet Polyhymnia verantwortlich 😉

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