Orestes und der Tinnitus

Wundern Sie sich nicht, wenn es in Ihren Ohren klingelt!

Tinnitus und schlechtes Gewissen?

Schauen wir mal, wohin es uns führt und beginnen ganz vorn. Es liegt ein Fluch auf dem Haus Atreus. Atreus ist der Großvater von Orestes. Und der von Iphigenie und Elektra. Damit haben wir die Geschwister schon mal zusammen. Aischylos hat eine Tragödie dazu geschrieben (458 v. Chr.) oder besser gleich drei, nämlich die Orestie, die einzige Trilogie der Antike, die erhalten geblieben ist. Und damit ein schrecklicher Familienfluch über fünf Generationen zu Ende gehen kann, darf man schon mal einen Dreiteiler schreiben.

Versuchen wir die Ausmaße des Elends, das Tragödiendichter immer wieder inspirierte, ganz im Sinne des Zeitgeistes zu einem Strip zu komprimieren. Dazu ist es dienlich sich wenigstens einige Namen zu merken. Wir beschränken uns auf die der Schurken. Tantalos, Pelops, Atreus, Agamemnon, Orestes. Mit Ur-Ur-Opa Tantalos begann der Frevel. Das Cleverle wollte herausfinden, wie es mit der Allwissenheit der Götter bestellt war und nachdem er sie schon vorher mit einem dreisten Diebstahl verärgert hatte – er klaute ihnen unsterblich machendes Nektar und Ambrosia direkt vom Mittagstisch – trieb er es jetzt noch ärger. Er bot den Olympiern bei einer Gegeneinladung seinen Sohn Pelops, den er kurzer Hand tötete, gut gewürzt zum Hauptgang an. Zwar knabberte Demeter durch den Verlust ihrer Tochter etwas neben sich stehend ein wenig Schulter, aber die übrigen Götter merkten es sofort. Pelops wurde von ihnen in den Kessel geworfen, aus dem er zuvor serviert wurde, und – Magie der Küche für die einen, Alchemie für die anderen – wieder hergestellt. Außerdem bekam er schnell noch eine Schulter aus Elfenbein, ein erstes Zeugnis der Transplantationschirurgie, die übrigens bei Tinnitus kläglich versagt. Die Götter peinigten ihn an einem äußert unangenehmen Ort mit ausgeklügelten Gemeinheiten und verfluchten letztlich seine Sippe. Solange es Nachfahren gab, sollte dieser Fluch Gültigkeit haben: Jeder seiner Nachfahren sollte ein Familienmitglied töten und damit weitere Schuld auf sich laden.
Nun, jeder hat sich brav daran gehalten und hat seinerseits die Gräuel fortgesetzt. Pelops mordet seinen Gefährten, Atreus mordet seinen Neffen, Agamemnon schlachtet seine Tochter Iphigenie als Opfergabe getarnt. Deren Mutter Klytaimnestra tötet deshalb ihren Mann Agamemnon und dessen Geliebte Kassandra. Der Sohn Orestes tötet daraufhin seine Mutter Klytaimnestra und deren Geliebten Aigisthos.

Orestes – und das ist neu – wird dafür nicht mit dem Tod bestraft, sondern von den Rachegöttinnen gejagt (bei Aischylos), von den Fliegen fast in den Wahnsinn getrieben (bei Sartre) und auf dem Bild von William-Adolphe Bouguereau wird er mit Tinnitus geschlagen, wenn auch der Maler sein Bild „Das quälende Gewissen des Orest“ nannte.

Nun, wenn Ihnen bei den vielen Namen jetzt die Ohren klingeln, das ist reaktiv, das geht vorüber. Was aber hat es mit dem hartnäckigen, nicht endenden Tinnitus auf sich? Ist er möglicherweise Symptom eines anhaltenden, verdrängten, weil unlösbar erscheinenden Konflikts.

In der Orestie fordert der patriarchale Gedanke – Apollon tritt auf – Rache für den gemordeten Vater. Dem stehen die alten matriarchalen Kräfte gegenüber und schreien: „Muttermord!“ Schließlich ist es die Vernunft in Gestalt der Athene, die im Prozess für Orest plädiert.

Damit ist entschieden. Orestes wird freigesprochen. Aber die Erinnyen sind noch voller Wut und protestieren. Athene verspricht ihnen die Achtung der Menschen, wenn sie nicht immerwährenden Hass über das Land ausschütten. Die Vertreterinnen der Rache wandeln sich in die Wohlgesinnten, die Eumeniden.

Übersetzung in die Dynamiken der Seele: Gewalt gebiert Gewalt, Rache bindet, Weglaufen, Nicht-Hinschauen, Ohrenzuhalten ist keine Lösung (kein sich heraus lösen aus der Schicksalsspirale). Nach langem Weglaufen sucht Orestes Hilfe. Es stellt sich dem obersten Gerichtshof, eine erste Erkenntnis, und er bekennt, eine Notwendigkeit, damit das Gedankenjagen und –kreisen endet und die Sinne fühlen sich wieder wohl.

Hanswerner Herber
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