LOGOS oder die Komplementärdiät

Komplementärdiät suggeriert, dass es Mangelzustände gibt, in der unser „tägliches Brot“ nicht ausreicht, den Mangel auszugleichen und dass es Nährstoffe gibt, die ergänzend gegeben werden müssen. Komplementär ist in. Ob als Diät oder gleich als ganze, ganzheitliche, alternative Medizin.

Doch hören wir genauer hin, dann stellen wir fest, dass wie so oft „schlampig“ mit dem Wort umgegangen wird. Alternative (alter natus (lat.), anders, als anderer geboren) will etwas ersetzen, also radikal ändern. Komplementär drückt aus, dass ein Stoff, ein Handeln ergänzenden, anreichernden Charakter hat.

Wer will schon im Zustand einer instabilen Herzkranzgefäßenge eine Lebensumstellung vornehmen. Alles Trachten ist jetzt auf die Reparaturmedizin gerichtet, und diese leistet Hervorragendes. Ohne Frage! Allerdings, sie, die Schulmedizin, kann eben nur dies, reparieren, von Symptomen frei machen. Heilen kann sie nicht. Da bedarf es der Ergänzung.

Ergänzung durch…? Durch den Logos! „Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, dass …“
Logos nur mit Wort zu übersetzen, greift zu kurz. Da haben die Alten schon mehr reingepackt, von Moses über Heraklit bis Platon, von der Stoa über Aristoteles bis Kant, von Memphis bis Mercurius.
Logos bezeichnet u. a. auch SpracheRedeBeweisLehrsatzLehreSinn und Vernunft, bis hin zum Weltprinzip.

Diesen Logos, der doch ewig ist, begreifen die Menschen nicht, weder bevor sie davon gehört noch, sobald sie davon gehört haben. Denn obgleich alles nach diesem Logos geschieht, machen sie den Eindruck, als ob sie nichts davon ahnten. Heraklit, Fragment 1

Recht hat er, der gute Heraklit. Zu trocken, begreifen die Menschen nicht. Sich an der einsichtigen Vernünftigkeit und Rationalität zu orientieren, ist nicht jedermanns Sache. Da vermittelt eine gute Story auf Herz- und Bauchebene ungleich direkter.
Wenden wir uns also dem Mythos zu. Zumal heute eine kontroverse Auseinandersetzung über die Frage geführt wird, inwieweit das abendländische, rationale Denken überhaupt in der Lage ist, die komplexe Welt angemessen zu begreifen und widerzuspiegeln.

Gleichgültig nun, ob wir den Mythos oder den Logos bemühen, es bedarf der Einbindung in ein Sinnganzes, um heil zu werden. Novalis erfasst das unmittelbar:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Es erstaunt einen, wie einig sich die Mystiker aller großen Religionen sind, wenn sie das Innenleben des Menschen betrachten, ob judäochristlich, sufistisch oder zenbuddhistisch: Die erste Lebenshälfte verbringt Mr. Antrobus damit die äußere Welt zu erobern. Die Summe seiner Einstellungen und seiner Verhaltensmechanismen machen sein Erfahrungs-Ich aus. Dieses ICH, so aufgebläht es zunächst auch ist, muss manchem als so unterernährt erscheinen, dass er in der Hinwendung auf die inneren Kontinente (Enantiodromie, Heraklit) sich einer Komplementärdiät unterzieht. Er, der alte Adam, macht sich auf die Suche nach seinem wahren Selbst. Dabei räumt er nach und nach die Überindentifikation mit seinen Rollen, Angewohnheiten und Charakterzügen beiseite. Ein mühsames Unterfangen, dieser Weg der Erkenntnis, Askese, guter Werke oder Meditation, zumal er anfangs leicht in ein erneutes Ego-Spiel mündet: Jetzt werde ich zum großartigen Eroberer der Innenwelten. Schaut alle her, wie weit ich schon bin!
Johannes Tauler, ein deutscher Mystiker, bringt es auf den Punkt:

Wenn der Mensch in der Übung der inneren Einkehr steht,
hat das menschliche Ich für sich selbst nichts.

Das Ich hätte gerne etwas
und es wüßte gerne etwas
und es wollte gerne etwas.

Bis dieses dreifache „Etwas“ in ihm stirbt,
kommt es den Menschen gar sauer an.

Das geht nicht an einem Tag
und auch nicht in kurzer Zeit.

Man muß dabei aushalten,
dann wird es zuletzt leicht und lustvoll.

 

Hanswerner Herber im April 2013
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