Individuation versus Individualismus

Häufig werde ich nach dem Unterschied gefragt, noch häufiger wird jedoch nicht gefragt, sondern Individuation mit Individualismus  gleichgesetzt, wobei Individuum eher nicht in einem sozialen Kontext gesehen wird, sondern in seiner Ich-Verwirklichung, die in egoistischen Bedürfnissen steckenbleibt.

Grund genug, dem Anspruch, der im Namen individuatio ja schon anklingt, gerecht zu werden und dazu einige Gedanken zu Papier zu bringen. Aber…

…nicht heute, nicht bei Frühlingsanfang, nicht bei dem herrlichen Sonnenschein. Ich pfeife auf die Individuation und mache es mir leicht und albere etwas mit dem Begriff Individualismus rum. Der wundervolle Kabarettist Max Uthoff macht es bei der diesjährigen Verleihung des Deutschen Kleinkunstpreises so wunderbar klar, als er herausstellt, dass ein vereintes Europa illusorisch ist, da die einzelnen Nationen in ihren Problemlösungsorientierungen im Individualismus stecken bleiben.
Der Deutsche etwa sagt, wenn ihm ein Problem vorgelegt wird: „Wie kann ich hier den Arbeitsablauf perfektionieren – und beeinträchtigt das meinen Urlaubsanspruch?“
Der Italiener sagt sich immer: „Ja, iste das wirklich nötig, dass iiich das Problem löse? Oder könnte das auch machen meine Maamma?!“
Der Österreicher sagt sich: „Ja da schau her – ein neues Problem……mer wurscht.“
Der Engländer : „Goodness! Ein neues Problem! Wo kann ich mich anstellen?“

Ich habe mich prächtig amüsiert. Vor allem habe ich mich an eine Kolumne aus DIE ZEIT erinnert, die bestimmt schon 20 Jahre zurückliegt, und die das Thema ebenso gekonnt persifliert. Hier ist sie:

Immer wenn es um Fortschritte auf dem Weg zum einheitlichen europäischen Binnenmarkt geht, sind sich die kreativen Köpfe der Europäischen Management- und Marketing-Agentur (EMMA) einig: Es ist schwierig, Eurostyles und Eurobrands zu entwickeln, die wirklich durchschlagen. Aber wenn es gelingt, winken Mega-Etats für Mega-Spots.

 „Wir dürfen nicht nur Gesetze harmonisieren. Wir müssen das Beste, was die europäischen Nationen an Lifestyles anzubieten haben, auf einen Nenner bringen!“ sagt EMMA-Direktionsassistent Dr. Günter P., „Nur so schaffen wir eine Weltmacht Europa, die sich sehen lassen kann. Wir wollen ein Europa, in dem die Deutschen die Autos bauen, die Engländer die Polizisten stellen, die Schweizer die Bankiers, die Franzosen die Köche und die Italiener singen die Opernarien“.

 „Super“, sagt die Runde, „das ist bester Eurostyle! Das ist das Rezept für europäischen Wirtschaftserfolg.“

 „Aber wenn es schief geht“, warnt Kollege L., „dann bauen die Franzosen die Autos, die Deutschen stellen die Polizisten, die Engländer kochen, die Italiener sind die Bankiers und die Schweizer singen die Opernarien“. Die Runde schweigt beklommen.

 „Die Europäer lassen sich noch lange nicht über einen Kamm scheren,“ meldet sich Dr. P. wieder. „Die verschiedenen Lifestyle-Typen reagieren unterschiedlich auf Produkte und Situationen. Aber wer diese Reaktionsmuster kennt, wird sich mit Werbung und Marketing nuanciert und erfolgreich durchsetzen. – Nehmen wir doch einmal eine alltägliche, aber dramatische Situation und simulieren die unterschiedlichen Reaktionen durch.“

 Die kreative EMMA-Runde liebt solche Simulationen. Der junge Kollege R. hat auch sofort einen Vorschlag für eine alltägliche dramatische Situation:

 „Ein Mann kommt nach Hause und findet seine Frau mit einem anderen Mann im Bett.“

 „Eine echte Lifestyle-Schlüssel-Situation“, sagt Dr. P.  „Wie würden die unterschiedlichen europäischen Typen darauf reagieren?“

 Die EMMA-Runde liefert sofort eine Fülle von Einschätzungen und unterschiedlichen Reaktionen:

  „Der Engländer tut gar nichts, weil er dem anderen nicht vorgestellt wurde.“

 „Der Franzose springt ins Bett und macht mit.“

 „Der Deutsche ruft seinen Anwalt an.“

 „Der Italiener erschießt den anderen.“

 „Der Spanier erschießt den anderen, seine Frau und sich selber.“

 „Der Schweizer prüft, ob das Bett irgendwie gelitten hat.“

 

Köstlich, nicht wahr? Möge uns diese Vielfalt auch unter einem gemeinsamen Dach erhalten bleiben.

Hanswerner Herber

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