Begegnung

Ein sperriges Wort, wenn man nur ein wenig länger darauf rumkaut. Ich gehe, ich höre, ich trinke, ich lache, ich tanze. Sofort ist da ein Bild, unmittelbar, teilt sich den Sinnen mit. Aber bei „Ich begegne“? Klar, Begegnung heißt: jemanden/etwas (zufällig) treffen. Meeting, encounter, se recontrer. Dennoch Be-geg-nung, das  erreicht mich nicht so unmittelbar. Halte ich Abstand, weil im Gegenüber auch ein möglicher Gegner steckt? Etwas, das mich trifft? Etwas, was mir zustößt? Kann ich mir auch selbst begegnen? Und wer ist Ich und wer Selbst? Und was finde ich dort vor? Und will ich dem überhaupt begegnen?

Wir ahnen, begegnen ist komplexer als sich den Kopf zu kratzen oder in der Nase zu bohren, wiewohl letzteres Folge des Nachdenkens über ersteres ist. Schauen wir also, wohin uns unsere Fragen führen, welche Gesetzmäßigkeiten im Begriff Begegnung verborgen liegen.

Zunächst bedarf es der Anwesenheit Beteiligter. Die beiden Kerzen, die schräg hinter meinem Notebook die Teetasse betrachten, an der ich mir eben die Lippen verbrannt habe, stehen zwar in einer räumlichen (Tisch) und auch nützlichen (leibliches Wohlbefinden) , ja sogar sinnhaften Beziehung (gemütliche Stimmung) zueinander, aber in der Kollusion von Ursache und Wirkung ist hier das Subjekt dem Objekt begegnet. Objekte aus sich heraus entfalten keine Beziehung. Also Typ 1: die Begegnung zwischen einem Subjekt und einem Objekt. Typ 2 ist dann die Begegnung zwischen einem Subjekt und einem anderen Subjekt, die auch prompt eintrifft, indem das geliebte Weib über ihr Strickzeug blickend sich zu Bemerkungen über unflätige Flüche auslässt. Die Replik fällt entsprechend knurrig aus, sie solle sich nur nicht ihre Lippen verbrennen.

Also halten wir fest: es bedarf der Zweiheit, des Ichs und des Nicht-Ichs, das dem Ich gegenüber steht. Damit ist das Thema der Dualität  und der Polarisierung auf dem Tisch. Bei der schon erwähnten Möglichkeit der Begegnung mit sich selbst, werden wir bei der postulierten Ich-Du-Polarisierung natürlich nicht einknicken. Zwar bin ich ja immer ich selbst. Aber auf der Nachtmeerfahrt unserer Heldenreise – der Individuation –  treffe ich auf eine ganze Reihe verdrängter oder gar abgespaltener dunkler Gestalten (Schatten), die ich in mir nicht wahrhaben will und deswegen gern nach außen projiziere. Und dort kommen sie mir dann entgegen und treffen mich (ist wörtlich zu nehmen).
Natürlich kann das Ich nicht nur einem Du, sondern mehreren begegnen. Dennoch sorgt bei aller Fähigkeit zum „Multitasking“ wohl die Sinnesphysiologie dafür, dass Begegnung  sich nicht nur, sondern auch höchstens zwischen zwei Polen entwickelt. In der Zentrierung auf das (den) Andere(n) wird das Mehr an Wahrnehmbarem gleichsam nach hinten geschoben und gibt der „echten“ – dialogischen würde Martin Buber sagen – Begegnung eine Chance.

Da dieses Blog zu Weihnachten erscheint, wünsche ich uns allen Zeit für Begegnungen, die „echt“ sind, die wirkliche Dialoge enthalten, die Geduld zuzuhören und den anderen ausreden zu lassen…

…und kündige jetzt schon an, dass wir uns zu diesem Thema noch einige Male begegnen werden. Mal sehen, auf was wir noch stoßen und ob es uns trifft.

 

Hanswerner Herber

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