1. Eine Kränkung, die tiefer reicht als „Umwelt“
Die Klimakrise verletzt das Selbstbild des Westens, weil sie zeigt: Wir sind nicht Herren der Natur, sondern Teil ihrer Bedingungen.
Das trifft nicht nur unsere Infrastruktur, unsere Energiepreise oder unsere Landwirtschaft. Es trifft eine Erzählung, die über Jahrhunderte tragend war: dass der Mensch – genauer: der moderne Mensch – die Welt in den Griff bekommt. Dass Freiheit gleichbedeutend ist mit Verfügung. Dass Fortschritt Kontrolle bedeutet.
Diese Erzählung hat Großes hervorgebracht: Wissenschaft, Medizin, Bildung, Wohlstand. Sie hat auch blind gemacht: für Nebenfolgen, für Externalitäten, für die Grenzen eines Planeten, der nicht nur Bühne ist, sondern Mitspieler. Die Klimakrise bringt das Unbewusste der Moderne an die Oberfläche: Wir können vieles gestalten, aber wir können die Grundbedingungen des Lebens nicht beliebig überlisten.
Und genau deshalb spüren wir diese Krise oft als Kränkung – nicht nur als Problem.
2. Bloms These: Informationen reichen nicht, Bedeutung entscheidet
Philipp Blom formuliert (zugespitzt): Gesellschaften leben von Bedeutungen, nicht von Informationen.
Informationen haben wir seit Jahren im Übermaß: Berichte, Kurven, Grenzwerte, Szenarien. Was fehlt – oder zerfranst – ist ein Bedeutungsfeld, das Handlungsfähigkeit stiftet: eine gemeinsame Erzählung, warum Veränderung nötig ist, was sie uns abverlangt und was sie uns ermöglicht.
Denn Daten bewegen selten. Bedeutung bewegt. Und Bedeutung entsteht nicht aus moralischem Druck, sondern aus einer inneren Plausibilität, die Menschen verbindet: „Das ist wahr – und das betrifft mich.“
Wenn unsere öffentliche Debatte dennoch häufig in Erschöpfung endet, liegt es nicht nur an Interessenkonflikten, sondern auch an einem kulturellen Vakuum: Wir streiten um Maßnahmen, ohne ein gemeinsames Bild davon zu haben, wer wir sein wollen, wenn wir nicht mehr „oben“ stehen, sondern mitten drin.
3. Der Mythos der Verfügung – und sein Ende
Die Moderne hat den Begriff „Natur“ oft behandelt, als sei er ein Lagerhaus: da draußen, verfügbar, neutral.
Die Klimakrise zeigt das Gegenteil: Natur ist nicht „außen“. Natur ist die Bedingung, in der wir leben – einschließlich unserer Körper, unserer Ernährung, unserer Gesundheit, unserer Städte. Wir sind nicht Zuschauer. Wir sind Teil des Systems, das wir verändern.
Damit fällt ein stilles Versprechen weg: dass wir Probleme grundsätzlich durch Wachstum und Technik „wegkaufen“ können. Technik bleibt zentral – aber ohne Maß, Gerechtigkeit und soziale Bindung wird sie zur Beschleunigung dessen, was uns beschädigt.
Die bittere Pointe lautet: Das Klima verhandelt nicht. Es reagiert.
4. Weihnachten als Gegen-Erzählung
Weihnachten ist – jenseits aller Konfessionen – eine kulturelle Zumutung: Der Anfang einer neuen Ordnung wird nicht in Macht, Dominanz oder Überlegenheit verlegt, sondern in Verletzlichkeit. In das Kleine. In das, was Schutz braucht.
Das ist kein sentimentaler Gedanke. Es ist eine anthropologische Alternative: Eine Kultur, die Verletzlichkeit nicht als Schwäche beschämt, sondern als Wirklichkeitskontakt anerkennt, wird handlungsfähiger – nicht lähmender.
Vielleicht ist das der Kern einer reifen Moderne: nicht Rückzug aus dem Fortschritt, sondern ein Fortschritt, der sich seiner Bedingungen bewusst wird. Ein Fortschritt, der nicht mehr so tut, als gäbe es keine Rechnung.
5. Vom „Selbstbild“ zur Selbstbegrenzung: Erwachsen werden als Kulturleistung
Das verletzte Selbstbild kann auf zwei Arten beantwortet werden:
- Regression: Trotz, Leugnung, Zynismus, Feindbilder. („Dann eben weiter wie bisher.“)
- Reifung: Anerkennung, Trauerarbeit, Neubestimmung. („Wir ändern die Erzählung, bevor uns die Physik dazu zwingt.“)
Reifung bedeutet hier: Selbstbegrenzung, nicht als Askese, sondern als Intelligenzform. Grenzen werden nicht als Kränkung erlebt, sondern als Realität, die Gestaltung überhaupt erst möglich macht.
Ein Satz, der das bündig ausdrückt, könnte lauten:
Ökonomie ohne Ökologie ist Selbstauflösung.
Und ergänzt: Politik ohne Bedeutung ist Verwaltung.
6. Bedeutung entsteht in Bindung – nicht im Moralismus
Ein häufiger Fehler in Klimakommunikation ist der Glaube, moralischer Druck ersetze Sinn. Er tut es nicht. Druck erzeugt Gegenwehr oder Erschöpfung. Sinn erzeugt Richtung.
Bedeutung entsteht dort, wo Bindung spürbar ist:
- Bindung an Orte (Heimat nicht als Abwehr, sondern als Verantwortung)
- Bindung an Menschen (Solidarität als konkrete Praxis)
- Bindung an Zeit (Zukunftsfähigkeit als Maßstab)
- Bindung an Wahrheit (nicht als Selbstgerechtigkeit, sondern als Orientierung)
Das ist nicht „weich“. Das ist politisch, sozial und psychologisch höchst wirksam.
7. Eine Weihnachtsbotschaft, die nicht billig tröstet
Wenn Weihnachten 2025 eine Botschaft haben kann, dann nicht: „Alles wird gut.“
Sondern: Wir sind nicht machtlos – aber wir sind auch nicht allmächtig. Und genau in dieser Mitte liegt Würde.
Wir müssen nicht erst perfekt sein, um zu beginnen. Aber wir müssen beginnen, um nicht zu verlieren, was uns trägt.
Die Klimakrise ist nicht nur ein technologisches Problem, sondern eine Bewusstseinsfrage: Wie leben wir, wenn wir uns nicht mehr für unverwundbar halten?
Vielleicht ist die tiefste Zumutung und zugleich die Chance: dass wir unsere Freiheit neu definieren – nicht als grenzenlose Verfügung, sondern als Fähigkeit, Maß zu halten, bevor Maßhalten erzwungen wird.
Das wäre, in einem anspruchsvollen Sinn, eine weihnachtliche Bewegung: aus der Hybris in die Beziehung. Aus der Vereinzelung in die gemeinsame Sprache. Aus der Illusion von Kontrolle in eine reife Form von Gestaltung.
Frohe Weihnachten 2025 – nicht als Flucht in das Idyll, sondern als Einladung zur Reifung.
Ihre und Eure
Hanswerner Herber Gisela Rößler