Scham und Schuld

Die Frage nach dem „Was war zuerst: Henne oder Ei?“ ist für Kreationisten nicht existent, für Aristoteles eine Fingerübung, für Immanuel  Kant die Gelegenheit den kategorischen Imperativ zu erfinden, für die Nuklearbiologen mit „RNA“ beantwortet, und für mich nur der Aufhänger für das Thema Scham und Schuld.

  • Bedingen sich die Beiden?
  • Differenziert sich eins aus dem anderen?
  • Wenn ja, was ist früher?

Fragt man die Emotionspsychologen, werden Schuldgefühle und Scham als nahverwandte Prozesse gesehen. Beide gründen sich auf ein verinnerlichtes System an Maßstäben, Regeln und Normen und damit natürlich auf die Bewertungsprozesse, die in Zusammenhang mit der Beurteilung des Selbst stehen und insofern auch selbstreflexiv sind. Sie regeln – ebenso wie Wut, Freude, Angst, Trauer, Ekel, Schmerz – Beziehungen sowohl nach außen wie im Inneren.

„Emotionen sind kein Luxus, sondern ein komplexes Hilfsmittel im Daseinskampf.“
Antonio R. Damasio

Immer wieder erlebe ich, dass der erste Besuch eines Patienten von starken Schamgefühlen begleitet ist, „nicht normal“ zu sein. Scham ist ein menschliches Grundgefühl, ein notwendiger und normaler Affekt, neben Angst, Freude und Ekel, Wut und Trauer. Menschen schämen sich ihrer Gebrechen, eines (vermeintlichen) Mangels oder Makels, sind verunsichert darin, wie sie mit sich und den anderen umgehen, und sie haben mitunter deswegen Schuldgefühle. Aber wie unterscheiden sich Scham und Schuld?
Das Gehirn setzt viele Signale in Entscheidungen um und leitet Handlungen ein, ohne das Bewusstsein zu informieren. Es sieht so aus, dass die Scham ursprünglicher ist, dass in der Scham das Selbst direkt global negativ bewertet wird: du bist peinlich.
Schuldgefühle dagegen zeigen mit spitzem Finger auf das Geschehen: so einer bist du. Sie fokussieren eine negative Bewertung meines Handelns. Aus psychoanalytischer Sicht ist es die Spannung  zwischen Ich und Ich-Ideal, die die Scham charakterisiert, und die Spannung zwischen Ich und Über-Ich, die die Schuld charakterisiert.

Die in den Medien immer mal wieder auftauchenden Begriffe „Schamkultur“ und „Schuldkultur“ scheinen mir eine gute Annäherung zu versprechen. Sie gehen auf die Anthropologin Ruth Benedict zurück, die während des zweiten Weltkriegs eine kriegsrelevante Studie über die japanische Gesellschaft erarbeitete. Darin führte sie die Begriffe „Schamkultur“ am Beispiel Japans und „Schuldkultur“ am Beispiel der USA ein. Zentrale Instanz für die Bewertung des individuellen Verhaltens ist in der Schamkultur die Gesellschaft, die zentralen Begriffe sind Ehre und Schande. Da es sich um eine äußere Instanz handelt, deren Blicken das Individuum ausgesetzt ist, strebt es „ein möglichst unauffälliges, rollenkonformes Verhalten an“.  Durch diese Unterwerfung unter ein „System externer Verhaltensregulierung“  erlangt das Individuum sozialen Schutz, büßt aber Teile seiner Identität ein.
Im Mittelpunkt einer Schuldkultur steht das Gewissen und die beobachtende Instanz befindet sich im Inneren des Individuums, nachdem dieses sie internalisiert hat. Schuld hat in diesem System keinen zerstörerischen Charakter, sondern die Auseinandersetzung mit ihr ist vielmehr die Grundlage der „moralischen Person“. Nicht mehr die Wahrung der Ehre, sondern die Sühne der Schuld wird zum zentralen Thema der Gesellschaft. Sie fördert die Individuation und ermöglicht die Ausbildung eines universalen Wertesystems und ist somit nicht mehr von einer Wert gebenden äußeren Instanz abhängig.

  • Schuld: Ich begehe eine Normverletzung, empfinde ein Schuldgefühl, möchte sühnen. Muss der Andere die Normverletzung bemerkt haben? Nein! Das Gewissen gilt mir als moralisches Korrektiv für mein Verhalten. Das rechte Verhalten entsteht durch die Übernahme von Verhaltensmaßstäben, die von den frühen Bezugspersonen erlernt werden.  Eine geplant Normverletzung  wird vom Gewissen durch das Schuldgefühl signalisiert und löst einen Abwehrmechanismus aus, der entweder die Normverletzung verhindert und mir damit wieder „Seelenruhe“  beschert oder aber ich mache mich schuldig, erfahre das als eine innere Bestrafung und suche Entlastung: tut mir leid, ich mache es wieder gut.
  • Scham: Hier sind nicht die frühen Bezugspersonen, also meistens die Eltern, prägend, sondern die Großfamilie, die Gemeinde, die „Organisation“, Vorbilder, Ahnen, kulturelle „Helden“ etc.  Verstoße ich hier gegen eine Normvorstellung, verliere ich womöglich die öffentliche Wertschätzung.  Das Gewissenssignal löst auch hier einen Abwehrmechanismus aus, der im Idealfall die Normverletzung verhindert. Mache ich mich aber schuldig, kann ich nur hoffen, dass es niemand bemerkt hat, dann kann das Schamgefühl über die Zeit abflachen und verschwinden.  Wird mein Fehlverhalten jedoch öffentlich bemerkt, empfinde ich ein Schamgefühl, werte es ebenfalls als innere Bestrafung und suche Entlastung über eine Bestrafung durch die Gesellschaft: „ich sehe ein, dass ich Strafe verdient habe und bitte um eine gehörige solche“ = habt mich bitte wieder lieb, lasst mich wieder dazugehören.

Ich kreuze also auf der Abstimmungsliste http://www.facebook.com/individuatio „Was ist zuerst?“ Scham an.  

Hanswerner Herber

Verwendete Literatur: Eric Robertson Dodds, Paul Schirrmacher, Leon Wurmser , Cord Benecke und Doris Peha; 
Das Zitat „ich sehe ein…“ ist aus Curt Goetz „Die tote Tante“
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